Auf einem geruhsamen Spaziergang wandelte ich gedankenversunken meiner Wege und war recht zufrieden. Es war herrlich windstilles Wetter, vor mir lag ein menschenleerer Feldweg und rechts flüsterte leise das riesige, bald erntereife Getreidefeld. Dass trockene Halme in der Regel bei Windstille nicht zu flüstern pflegen, muss mir irgendwie entgangen sein. Ich stockte erst, als das Flüstern zu einem bedrohlichen Scht-scht-scht angeschwollen war, blieb stehen und wandte Unheil ahnend den Kopf. Ganz langsam. Im Augenwinkel sah ich es bereits, zwar noch weit genug entfernt, aber trotzdem schon angstpipi nah. Irgend etwas bahnte sich zielsicher den Weg zu mir, das Scht-scht-scht wurde ohrenbetäubend laut … und ich stand da wie ein Erdmännchen.
Ich möchte mich an dieser Stelle, auch wenn’s nix bringt, bei allen Horrorfilm-Opferdarstellern und -Drehbuchautoren aus tiefstem Herzen entschuldigen. „Du hirnamputiertes Ding, steh nicht so schusslig da, renn! Renn!!“ oder „Nein. Nicht schon wieder so ’ne doofe Hollywood-Kreischetusse, die nur darauf wartet, geköpft zu werden. Wie kitschdoofig auch!“ Ich bin weder kreischig drauf noch – soweit ich weiß – hirnamputiert, beides hinderte mich jedoch nicht daran, wie ein hypnotisiertes Nagetier die Augen weit aufzureißen, um genau zu sehen, was mich demnächst niedermetzeln würde.
Lassen wir die Panik, den Tatort und ein bisschen von der Dramatik beiseite, so widerfährt mir ein Aspekt davon in steter Regelmäßigkeit: Wie ein Erdmännlein glotzen und nichts tun; wider deutlichst besseres Wissen.
Wie etwa bei diesem eindrücklichen Geschehnis:
Ich hatte mir eine erbleichend teure Hemerocallis gegönnt, behutsam das Schmuckstück gesetzt und mir schon vorgestellt, wie sie dereinst das Juwel meines einen Beetes sein würde. Zwei Tage später raste der größte (ergo der schwerste und mit dicksten Pfoten/Krallen versehene) Hund quer über den zarten Austrieb, um der Nachbartöle zu zeigen … weiß auch nicht genau was, ist ja auch egal. In dramatischster Stimmung stürzte ich zum verletzten Wesen, nahm sachte die schnöd gequetschten und halb abgebrochenen Triebe in die Finger, flüsterte beschwichtigend: „Du schaffst das, Schätzelchen“, unterbrach kurz mit Donnergrollen in der Kehle: „Duuuuu! Du … du! Morgen kommst du zum Metzger!“ und fuhr streichelzart weiter: „Verlass mich nicht! Du schaffst das, ich glaub an dich.“
Und dann passierte es (eben nicht). Jeder vernünftige Mensch hätte sofort die Hem gesichert, rein aus naheliegenden Gründen der Wahrscheinlichkeit. Ich tat es nicht. Hätte ich mir wenigstens etwas dabei gedacht, z.B. „Nun, ein zweites Mal rennt der sicher nicht drüber.“ (so dusslig der Satz ist, er hätte immerhin als Argument gedient). Oder hätte ich wenigstens einfach keine Lust gehabt, es zu tun, weil zu mühsam, anstrengend, zeitraubend. Nein, nichts von alledem. Ich tat es einfach nicht. Mit offenen Augen nichtst(r)at ich ins Taglilien-Verderben.
Die „Purple-eyed Dragonfly“ erlag zwei Tage später, wenige Minuten nach dem erneuten Angriff. Dass ich seither nie mehr etwas kaufte, dessen Preis mir die Farbe aus dem Gesicht treibt, nützt leider nicht viel. Die ladegehemmte Erdmännchenhaftigkeit müsste ich loswerden.
(Der Hund wurde nicht geschlachtet.)
Momentan spielt sich ein sehr ähnliches Szenario mit den Cotula bzw. Leptinella ab. Diesen Sommer leistete ich mir 15 Stück dieser halbschattenverträglichen Fugenpflanzen. Sie täten auch bereitwillig anwachsen, aber die Velociraptoren bescharren die meisten – vermutlich in Bälde – zu Tode. Gemessen am Umstand, dass ich den Kauf dieser fünfzehn Schnuckels mindestens so feierte wie den ersten richtig verdienten Lohn, gibt die noch bis jetzt nicht erfolgte lebensrettende Maßnahme doch etwas zu denken.
Weniger eindrücklich aber genauso erschütternd sind die alltäglichen Ladehemmungen. Da wächst ein Löwenzahn mitten auf dem Wiesenrasen. Man läuft dran vorbei, hat (so geschehen!) den Löwenzahnstecher sogar in der Hand (weil man ihn eben mal schnell an seinen Aufbewahrungsort bringen will), blickt kurz runter, denkt: „Jetzt müsste man den ausstechen“, geht unbeirrt weiter zum Gartenhaus, legt den Stecher hin und widmet sich anderen Dingen. Nicht etwa drängelnd-dringenden, einfach nur anderen. In den folgenden Wochen rupft man ständig Löwenzahnblüten aus, wenn man wieder daran vorbeigeht und gesteht sich ein, dass das gehörig blöd ist. Im besten Fall hebt sich die Hemmung irgendwann auf, man ergreift Werkzeug, sticht zu und ist das Ding endlich los. (Ich habe so einen Löwenzahn aber auch schon satte zwei Jahre meines Lebens begleiten lassen, das soll hier nicht ungesagt bleiben.) Und so geht es weiter. „Löwenzahn“ lässt sich durch zig anderes ersetzen: Zaunwinden, wuchernder Kürbis (man kommt nicht mehr zu den Kompostmieten), von Schnecken zerfressene Bohnenkeimlinge (Schneckenkorn täte not), lichtraubende Wisterienranken (den Pflanzen, nicht mir), … die Ersatzspieler nehmen kein Ende.
Es ist, wie es ist. Nachrückend einschieben möchte ich dazu bloß noch, dass diese Erledigungsblockaden seltsamerweise nur in meinem eigenen Garten auftreten. Sobald ich fremdgärtnere, bin ich ein mustergültiges Beispiel eines Anpackwesens. Oft, wenn ich aus einem Fremdgarten nach Hause komme, denke ich mir: „Wäre schon toll, wenn man diese Nick-Variante auch im eigenen Garten hätte.“ Ich wünschte, es gäbe keinen Konjunktiv.
Scht-scht-scht. Das Geräusch kam näher, noch näher, ich fühlte mein Herz in den zweitkleinsten linken Zeh fallen, Zeit für Gedanken blieb keine mehr, meine Nebennieren schütteten zentnerweise nutzloses Adrenalin aus, das Getreide teilte sich sichtbar, das Ding würde nächstens auf den Feldweg stürzen, meine Beine schienen aus Blei zu bestehen, unpassenderweise begann mein rechtes Ohr zu jucken. Mit einem letzten, lauten Ssssssch! brach das Wesen heraus, hechelte glücklich, und wandte sich selbstvergessen dem gestrigen Pipi eines anderen Hundes zu. Es war einer der meinen. Und zwar der kleinste, knuffigste, süßeste. Ich nehme es ihm bis heute übel, dass er die Dramatik der Situation, die Todesangst seiner Bezugsperson, die filmreife Szene dermaßen schnöde mit Rumschnüffeleien der niederen Art quittiert und somit ad acta gelegt hatte.