Schatzsuche

Die dickste der Velociraptorendamen zögerte keinen Augenblick und stürzte sich auf den fetten Regenwurm, der unter meiner Erdklumpen zerdrückenden Hand rosa aufblitzte, um im selben Moment gackflatternd Reißaus zu nehmen vor dem herbeistürzenden Cerberus, dem Schutzpatron aller Würmer und Spinnen. „Meine Güte, Hopkins, lass doch den Mädels ihre Freude, du sauertöpfischer Griesgram, du.“
Der Angesprochene setzte sich aufs Kartoffellaub, ein wachsames Auge mürrisch auf das sich erneut nähernde Federvieh gerichtet.

Kurz nach dem Aufstehen hatten sich in mir Gewissheit und Bedürfnis gleichermaßen geregt: „Heute, Nick, ist ein guter Tag zum finalen Ernten!“ Mit Grabegabel, drei Behältern und einer vorsichtigen Vorfreude bewaffnet, krempelte ich die Ärmel hoch und schnupperte in den kühl-feuchten Morgen hinein. Herbstlich war mir zumute, mit dem Wichtigsten, was dazugehört: Morgenfrösteln und Erntedankgefühl.

Es gestaltete sich erwartungsgemäß schwierig. Jedes Jahr nehme ich mir vor, noch systematischer und listiger vorzugehen, um zum ersten und erfreulichen Mal restlos alle Knollen zu erwischen. Planmäßig im Kopf entworfen klappt das reibungslos, aber dann stehst du im ausgehobenen Graben, schaufelst Erde von links nach rechts und ahnst genau so dunkel, wie die Blauen St. Galler daherkommen, dass du dich einmal mehr mitten im Versagenstal befindest.

Beim Nachwühlen kam ein gelber Plastiklöffel zum Vorschein. Ich warf ihn in Richtung Behälter Nr. 3, genannt „Bitte später in den Mülleimer kippen“ und verpasste diesen nur knapp. Als ich mich wieder ans Wühlen machen wollte, saß der Cerberus mittendrin und hypnotisierte mit gesenktem, erdkrümel-besprenkeltem Haupt einen zusammengeringelten Schnurfüßer. Nachsichtig hob ich ihn sachte hoch, setzte ihn außerhalb der Wühlzone neben mich, roch dabei an seiner Stirn und schloss die Augen. Hopkins ist ein Geruchs-Chamäleon. Jetzt entstieg seinen seidigen Haaren eine Mischung aus frischer Luft, Erde und Kartoffellaub. Als ich ihn absetzte, schnüffelte er tiefenentspannt an mein rechtes Ohr zurück und zwinkerte Schnurfuß-vergessen in die Sonne.
Ich wandte mich wieder der Charlotte-Reihe zu. Der Geistesblitz kam mir diesen März. Ich hatte drei bescheiden kleine Kartoffelplätze und drei Sorten, darunter nur eine neue, nicht erprobte. Da ich trotz aller Liebe doch knallhart erfolgsorientiert ausgerichtet bin, fand ich es sinnig, alle drei in Reihen zu pflanzen, an jedem einzelnen Pflanzplatz. Um dann pihandgelenkig den sortenspezifischen Ertrag ermitteln zu können. So weit so klug. Dass es sich dabei um früh, mittelfrüh- und spätreifende Sorten handelte, muss mir beim klugen Ausbaldowern irgendwie entgangen sein. Und dass es sich dabei um Rot- bzw. Blauhäute handelte. „Nächstes Jahr setzen wir wieder mal eine gelbschalige Sorte, die sieht man beim Buddeln wenigstens sofort“, murmelte ich zum zwinkernden Wesen neben mir.

Und das sofortige Sehen wäre noch erfreulicher als eh schon, weil noch näher dran an diesem kribbelig-abenteuerlichen Gefühl, nach einem Schatz zu graben. „Gold!“ flüsterte ich damals lautlos lachend vor mich hin, als ich meine allererste eigene Kartoffel eingebettet in der dunklen Erde hervorblitzen sah. Ehrfürchtig griff ich nach ihr, rieb die Erde von der gelben, in der Sonne glänzenden Schale und legte sie vorsichtig in den Erntekorb.
Egal, um welches Gemüse oder Obst es sich handelt, die Ernte ist und bleibt für mich ein Moment der verwunderten Dankbarkeit. Und würde ich mich nicht, aus Furcht davor, was ich von mir selber denken würde, davon abhalten, hätte ich schon längst einen rituellen Erntedanktanz choreographiert und irdene Gefäße hergestellt, um den Göttern zu opfern, was ihnen gebührt. 2015 kommt so ein tanzendes Opfern irgendwie blöd rüber.
Wie auch immer, bei Kartoffeln wird mir noch opferritualiger als eh schon. Kein Wunder. Du hast keine Ahnung, was unterirdisch vor sich geht, wie viele Knollen sich bilden, wie groß sie werden, ob sie durchlöchert oder angefressen sind, und wohin überall sie sich ihren Weg bahnen. Eine Unterweltpflanze der sättigenden Art.

Ich war gerade bei den Blauhäuten und beglückt. Knolle um Knolle konnte ich in hohem Bogen in den Erntekorb werfen. Erst nach einer Weile bemerkte ich, dass da kein Cerberus mehr war, den ich von A nach B heben musste. Übers verwelkte Kartoffellaub linsend konnte ich ihn dabei beobachten, wie er es mir gleichtat. In der hintersten blaukartoffligen Reihe buddelte er selbstvergessen, schnappte sich ein Riesenexemplar, schleppte es auf die Wiese und kaute selig drauf rum. Violette Stückchen fielen ihm dabei aus dem Mund, denen er nachschnüffelte, um sie in aller Seelenruhe gewissenhaft zu verputzen. „Es sei ihm gegönnt“, sagte ich zur Velociraptorin, die einen halben Meter von mir beschlossen hatte, sich eine Siesta zu gönnen. 2015 opfert man halt anders.

Dieser Kartoffelbereich war etwas ganz Besonderes. Das war und kam nämlich so:
Bevor wir diesen Garten inklusive Haus übernommen hatten, hatte da, in diesem leicht abfallenden Rasenhang, ein sehr großes Planschbecken vor sich hinexistiert. Vor unserer Ankunft wurde hastig entfernt und neu angesät. Aber leider zuvor nicht aufgeschüttet, geschweige denn planiert. Die Jahre danach versuchte ich unwissend pfuscherisch dieses verflixte, saublöde, „Das nervt mich jetzt echt, du!“-Loch mit allen falschen Mitteln aufzufüllen. Mit an anderer Stelle ausgestochener Rasensoden zum Beispiel. Es gelang mittelprächtig, bis mir der Kragen platzte. „Und jetzt wird da großflächig ausgestochen, neu aufgefüllt, planiert, gesät und hoppla!“ schrie ich dem lesenden Nichtgärtner ins Ohr. Er nickte.

„Die beste Idee überhaupt!“ dachte ich stolz, als ich weiter am Buddeln war und vorzu den Rasenmulch zum Hängemaulbeer-Teenager schmiss. Als ich ein Schild aus der Erde gezogen hatte, auf dem stand: „Ranunculus div. CHF 6.70“ und es in den Abfallbehälter warf, machte der Velociraptorenmann sein Gulugulu. (Übersetzung: „Mädels, lasst alles fallen und liegen, hier ist ein ganz besonders lecker-fetter Regenwurm/Engerling/Spinnerich/Sonstwaser!“) Er macht so lange sein Gulugulu, und wippt dabei mit seinem Kopf Richtung Gutifeini, bis das erste Huhn angehüpfwackelt kommt, es kurz beäugt und dann pfeilschnell erbeutet. Im enttäuschenderen Fall kommt das letzte Huhn herbei, besichtigt und meint dann wie alle anderen zuvor: „Göckgöck“. (Übersetzung: Igitt.)
Das erste Huhn war erfreut. Ich etwas weniger. Die Hängemaulbeerbaumscheibe war ratzekahl und der Rasenmulch überall im Rasen.
„Es sei ihnen gegönnt“, meinte ich achselzuckend zum Hundetier, das sich wieder hinter mich gesetzt hatte und bedrohlich an den geernteten Kartoffeln schnüffelte, grub weiter und förderte eine zweite Hahnenfuß-Etikette zu Tage.

Ob dieser Platz unter dem Schwimmbecken früher mal ein Blumenbeet war? Die vielen glasierten Tonscherben passten wenigstens thematisch dazu. Nicht aber die unzähligen Bonbonpapiere, Glasscherben und der eine, inzwischen labbrig gewordene Sunkist-Beutel „Ice-Tea“, in dem noch der Strohhalm steckte. Und die quadratische Trittplatte, an der eine Ecke fehlte, konnte auf alles und nichts hindeuten.
Als ich vor Jahren den Teich entfernte und in seiner Uferzone, die keine richtige war, unter den vielen großen Steinen ein Etikett fand, auf dem „Wasserdost“ stand, wollte das nicht wirklich in mein Weltbild passen. Dass jemand, der einen Teich mit Koniferen, einer Brautspiere, Erika, Goldruten und Flieder umrahmt hatte, auf die gute Idee kam, nebst dem Chinaschilf auch noch Eupatorium zu setzen, überraschte. Dass heute von diesem Gewächs nix mehr übrig war, ebenso. Etwas weiter links zog ich das nächste Etikett hervor und brach in schallendes Gelächter aus: „Blumenkohl.“
Nun gut. Bisher bin ich noch auf keinen veritablen und unerwarteten Schatz gestoßen, aber zum Lachen konnten sie mich bringen, die verwirrenden Fundstücke.

Zurück zum Rasenschwimmbeckenloch. Nachdem ich die Entscheidung zum Neuanfang getroffen hatte, saß ich in einer meiner Stunden auf der Hühnerbank, sah auf den unglücklichen Rasenbereich und dachte nach. Das musste alles erst einmal ausgestochen werden. Und dann wäre erst einmal Erde da. Tolle Erde. Meine Augen glitzerten in der untergehenden Abendsonne. Ob ich dieses oder nächstes Jahr neu ansäen würde, wäre doch Hans was Heiri, oder? Ich raste ins Haus, holte mir meinen Gemüseordner und notierte: „2015 Kartoffeln, danach Knoblauch und Steckzwiebeln. 2016 Knoblauch-, Steckzwiebel- und vergessene Kartoffelernte, danach im Herbst auffüllen, planieren, Rasensaat.“ Auf dem Bleistift rumkauend wanderte mein begierlich glitzernder Blick über die Grünflächen: „2017: Nächsten Rasenbereich genau so behandeln!“

„Die beste Idee überhaupt!“ dachte ich, als ich die letzten zwei Kartoffelriche anging. Nirgends sind sie so gut angegangen wie hier. Trotz des bösen Sommers. Es würden zwar nicht die ersehnten 50 Kilos, aber immerhin war ich nahe dran.

„Ich hätte da Kartoffeln. Fünfzig Kilo pro Sack. Wie viele davon möchten Sie?“ Ich, 21-jährig, als erste eingezogen in die Zweier-WG, meinte, Kohlenhydrate seien eine gute Sache, von der man nicht genug haben könne, gedachte aber meines schmalen Portemonnaies und beschränkte mich auf einen. Ein Jahr später hatten wir die letzte Kartoffel geschlachtet. Ein bisschen missmutig. Ja, sie hingen uns aus den Ohren raus. Vor allem deren austreibende Augen. Aber da waren wir Mädels noch jung und hatten keinen Keller, sondern bloß einen weißen Einbauschrank.

Ich grub nach der letzten Kartoffel, warf sie in Behälter Nr. 1, kroch über den angrenzenden Rasen zur Hühnerbank und besah. Das Schwimmbeckenloch glich einem Tagewerkbau. Rechts ein Riesenhügel, links ein tiefes Loch. Ich sortierte die Sorten, warf „Blaue St. Galler“ in die eine Kiste, „Charlotte“ in die zweite, „Highland Burgundy Red“ in die kleine dritte. Es knackste in der Wirbelsäule.
Nachdem ich die drei Kisten auf den Sonnensitzplatz gehievt hatte, guckte ich ins Legenest, nahm das heutige letzte Ei heraus, machte mich dran, den Gravensteiner-Apfelkuchen zu backen und tagträumte von eigenen Kühen, Schafen, Schweinen und mehr Gemüsebeeten.

Ich schob den Kuchen in den Ofen, griff mir den Gemüseordner und korrigierte: „2017 Frühjahr 2016: Nächsten Rasenbereich genau so behandeln!“

7 Kommentare

  1. Genau, ich finde auch, dass sich Kartoffelernte anfühlt wie Schatzsuche. Ein wirkliches Highlight im Gartenjahr. Fast nichts kann das toppen. Tja, wenn ich mir das so überlege – vielleicht die Schüssel voller kerngesunder knallroter Tomaten oder ein Korb voller feiner Buschböhnchen oder glänzende violette Auberginen oder vielleicht doch die Kürbisse ? Nee, definitiv die Kartoffel-Schatzsuche.
    Und wie Du das wieder so schön beschrieben hast ! !

    Ich habe übrigens gestern nach Ernte der Blauen St. Galler beschlossen, diese nicht mehr zu pflanzen. Ich habe sie fast nicht gefunden, da sie die gleiche Farbe wie die Erde hatten. Musste sie ertasten, und die Schatzsuche war nicht mehr ganz so befriedigend.

    Ihr habt schon spezielle Hunde, muss ich hier noch anmerken, der eine säuft Brennesseljauche, der andere rohe Kartoffeln. Na ja, die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. Sicher ist, dass er nach der Kartoffel sicher kein Magenbrennen (mehr) hat oder bekommt . . . .

    L. G. Saattermin

    1. So mühsam sie sind, auf die Blauen St. Galler möchte ich nicht mehr verzichten. Die Highland Burgundy Red hingegen vermochte mich geschmacklich nicht zu berauschen. Schade um das hübsche knallviolettrote Fleisch. 🙁

      Also … beigebracht hab ich’s den Hunden ja nicht und gewundert habe ich mich auch schon, möchte ich hier zurückanmerken. Aber da sie stets zielsicher jegliche Giftpflanzen ignoriert hatten und sich nur über (für Hunde) Bekömmliches stürzten, liess/lasse ich ihnen die kleinen Freuden. (Wobei … Brennnesseljauche würde sich vermutlich jeder Hund einverleiben, wenn er könnte.)

  2. ach wie schön 😀

    auch ich finde hier immer wieder irgendwelche Dinge, vorallem im Gemüsebeet. Dort war nix außer Brennnesseln, als wir ins Haus zogen.
    Als ich aus dem Brennnesselurwald einen Acker anlegte, fand ich auch jede Menge “Schätze”
    Nägel, Knochen, Pferdezähne usw. :-D. Irgendwann einen Zipfel einer Plastikplane. Da wurde es mir dann mulmig. Ich buddelte und zog und das Ding wurde immer größer. Die ganze Zeit dachte ich, was da wohl drin verbuddelt wurde.
    Zum Schluß war es nur eine Plane, aber das Herz wummerte doch schon sehr.

    Selbst nach 9 Jahren kommen immer noch Dinge an die Oberfläche. Bin gespannt, was ich da noch alles ausgraben werde 🙂

    1. Ne Plastikplane … autsch. Da wär die Fantasie genau so mit mir durchgegangen.
      Ich warte ja immer noch auf die Entdeckung des vormieterlichen Meerschweinchen-/Vogel-/Hamster- oder Sonstwiefriedhofs. Aber vermutlich existiert der gar nicht und ich ziehe weiter en masse enttäuschende Bonbonpapierchen aus dem Boden. Hmpf.

  3. bei uns würdest du den Friedhof der Kuscheltiere finden

    3 Kaninchen, 4 Meerschweinchen, 6 Katzen *seufz*

  4. Ach wie schön! Fast bekomme ich Lust auf Velociraptoren und anderes Viehzeugs (auch wenn mir grad der Sinn eher darauf steht, keine Verantwortung für gar nichts/niemand zu haben). Blaue Kartoffeln? Vielleicht sollte ich es mit Blauen St. Galler versuchen. Vitelotte jedenfalls nicht, die sind soo dunkel und wachsen auch noch weit außerhalb der oberirdischen Pflanze.
    Nach wie vor aber hebe ich überall im Oilenpark ganz andere Schätze: Strümpfe, Medikamentenpackungen, Reste von Kabeln, Netze, auch mal einen angerosteten Topf und ganz selten riesige rostige Nägel – Überbleibsel einer alten Scheune.
    Hab’ ein schönes Wochenende, Nick!

    1. Liebe oile, Viehzeugs und Blaue St. Galler haben eines gemeinsam: Es gibt sie nur im ambivalenten Doppelpack. So oft ich mich über sie ärgere, so sehr erfreue ich mich an ihnen. Wobei … ganz aufgehen möchte die Rechnung nicht, denn unterm Strich überwiegen für mich die Vorteile und ich möchte beide nicht mehr missen, weder die unter-, noch meine oberirdischen Schätze.
      Achtung: Diese Aussage ist fern jeglicher Allgemeingültigkeit. 😉

      Es ist herrlich, von eurer Ausbeute lesen zu können, die zwar archäologisch gesehen genau so wenig wertvoll ist, wie die meine, aber nichtsdestotrotz die Fantasie anzukurbeln vermag. (Ich grüble noch an den Medikamentenpackungen rum …)

      Auch dir ein erfreuliches W-E im Oilenpark!

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