Es gibt so Momente im Leben, in denen man vom Weg abkommt. Völlig unerwartet und hinterrücks überfällt einen ein einziger Gedanke und jäh ist nichts mehr wie zuvor. Einer dieser schicksalsschweren Momente widerfuhr mir damals, als ich einfach so vor mich hinsaß (nicht in meiner Stunde, die war mir zu der Zeit noch unbekannt), die Staudenbeete betrachtete und mir selber sagte: „Jetzt im Ernst. Diese ganze Arbeit, diese Krüppelei, all die Stunden, Tage, Monate … und das alles nur für die Augen. Ich mein, … wenn man’s wenigstens essen könnte …“ Etwas erschrocken hielt ich inne. Es fühlte sich unangenehm versündigend an, dass ich mir so unverfroren selber in den Rücken fiel.
Wie war das nochmal mit dem Schwur aus tiefster Überzeugung? So etwas wie „Egal, was auch immer sein wird: Rosen oder Gemüse werden mir nie, nie, und immernocheinesmehr nie in den Garten kommen!“ Na?
So offensichtlich ist man ungerne Verräter an der eigenen Sache, auch wenn man es eigentlich inzwischen gewohnt sein müsste. Was habe ich schon Schwüre gebrochen! Dass ich mein Fahrrad, getauft nach Winnetous Pferd (ich habe – so weit ist es schon mit mir gekommen – nicht mal mehr eine Ahnung, wie dessen Name lautete), bis zu meinem Ableben hegen, pflegen und benützen würde. Heute fahre ich ein Auto – nicht Karl-May-benamst, und wo das Pferd geblieben ist, weiß der Geier. Auch mache ich nicht mehr täglich den Spagat und Handstand, obwohl ich mir mit neun versprochen hatte, das noch mit neunzig zu tun (mit zehn machte ich es, glaube ich, zum letzten Mal). Und so geht das weiter.
Reichlich despektierlich zuckte ich mit der einen Schulter. Die andere konnte ruhen – rosenmäßig hatte ich den Schwur nämlich schon vor einigen Jahren gebrochen. Letzten Endes war es eh ein Weichei-Eid, da er aus purer hochnotpeinlicher Angst entstanden war: Ich hatte schlicht Schiss. Vor den Rosendiven und dem arbeitsintensiven Gemüse. Grübelnd besah ich die nicht essbaren, aber gefällig kooperativen Rosen und fällte sowohl den Schwur als auch den Entscheid. Gemüse musste her. (Es war Herbst.)
Erfahrung macht nicht unbedingt mutig. Zumindest nicht kopflos. Darum ging ich die Sache zum ersten Mal so richtig fundiert an, wälzte Bücher, Websites, Pur-Threads, notierte, hirnte, radierte, rechnete (widerstrebend), konsultierte, telefonierte, nahm ein Glas Wein, eine Zigarette und gestand dem Nichtgärtner hochoffiziell: „Du, ich glaube, das wird nix. Das ist mir echt zu kompliziert. Da hast du die Fruchtfolge und die Haupt- und Sonstwiefrüchte und die 528 Regeln, von denen sich 259 deutlich widersprechen … fändest du’s ganz schlimm, wenn wir auch weiterhin kein eigenes Gemüse haben?“
Die Antwort war in ihrer einsilbigen Klarheit nicht zu übertreffen und mit keiner anderen hätte man meinen ehrgeizigen Widerspruchsgeist so sehr anstacheln können wie mit diesem unberührten „Nö.“ Gemüse musste her. (Es war Winter.)
Nun hatte ich das Problem, mit drei Hunden gesegnet zu sein, die nicht einfach omnivorisch unterwegs waren, sondern sich mit inniger Leidenschaft auf alle Früchte des Bodens und die Ernte derselben spezialisiert hatten. Mit knapper Not konnte ich sie – nicht immer – auf den Spaziergängen davon abhalten, Möhren und Zuckerrüben elegant aus dem Boden zu ziehen, Kartoffeln fein säuberlich aus der Erde zu nasbuddeln, Salatköpfe, Getreideähren und Maiskolben abzuknabbern oder, sofern etwas ihrem Qualitätsempfinden nicht entsprach, schnöde ranzupinkeln. Und so begann ich mit Hochbeeten.
Hochbeete sind toll. Man kann jeden Quadratzentimeter ausnützen, darf im Stehen oder leichten Bücken säen, ausdünnen, ernten, hat kaum Unkraut und gewisse Schädlingsfliegen rammen sich die Köpfe ein, weil sie in der Regel nicht mehr als zehn Zentimeter über Boden flattern. Ganz besonders toll sind sie, wenn man sie frühlings üppig mit Kompost versorgt, um dann festzustellen, dass darin ganz offensichtlich Fantastilliarden von Schneckeneiern gewesen sein mussten. Und das überhaupt Tollste ist, dass sie einem unmissverständlich Grenzen aufzeigen. Gärtner mögen in der Regel keine Grenzaufzeigereien, noch weniger als schnöde Nös. Erst recht, wenn’s um Gemüsiges geht.
Bereits bei der ersten selbst geernteten Kartoffel hatte ich Blut geleckt und war unrettbar dem berüchtigten achtfältigen Gemüsedrang verfallen: Mehr! Größer! Länger! Mehr! Besser! Mehr! Spezieller! Mehr! (Nicht zu verwechseln mit dem vierfältigen Sonstdrang, der Geophyten, (Bi)Annuelle und Gehölze betrifft: Mehr! Spezieller! Besser! Mehr!) So saß ich da, sturm- und drangvernebelt neben meinen Hochbeeten und dachte vor mich hin. Ob ich eines der Staudenbeete? … Vielleicht? Oder ein Rasenstück? Zwei, drei, vier Rasenstücke?
Es wich der Teichfolienteich.
Zu Recht, wie ich allen Unkenrufen zuvorkommen möchte. Der war nämlich schon vor mir da. Überdies so schlecht angelegt, dass er danach krächzte, von Grund auf neu umgestaltet zu werden. Nun lagen in der Waagschale: Teich reloaded versus neue Gemüsebeete. Das bedauernswerte Gewässer hatte nicht den Hauch einer Chance, umso mehr, als der Bereich zugleich hundesicher als auch ästhetisch gefällig eingefriedet werden konnte. Zumindest nach zwei verlustreichen Erntejahren.
Ich war mal in Paris. Und weil eine drängelnde Masse sabbernd vor der winzig kleinen Mona Lisa stand, vertrieb ich mir die Wartezeit mit den anderen Gemälden, die da so rumhingen. Mein Blick (der damals noch gar nicht wusste, dass ich dereinst einen Garten, geschweige denn einen gemüsigen haben würde) blieb hängen an Tomaten-Gurken-Radieschen-Salat-Kohl-etc.-Portraits. Sprachlos besah ich sie mir, langsamen Schrittes von einem zum nächsten gehend, ging zurück, schwelgte ein weiteres Mal. Die Mona Lisa war einigermaßen blickfrei, pflichtbewusst pilgerte ich hin, warf einen schnöd-schnellen Blick drauf und kehrte gierig zu Arcimboldos Bildern zurück. Das selige Mini-Lächeln verblasste im nachgedunkelten Farbenrausch der Tomatenwangen.
Seinen „Gemüsegärtner“ sah ich damals nicht. Gut so. Der Knüsselkopp hätte mich entschieden davon abgehalten, selber so einer sein zu wollen. Aber dreht man ihn auf den Kopf, was man in einem Museum selten tut, und auf Handstände verzichtete man ja schon vor Jahren, dann grinselt man unweigerlich. Etwa so, wie wenn man die letzten Freilandpaprika erntet, was ich morgen zu tun gedenke.