Tigerschnegelfell

Ahnungslos schritt ich meines hölzernen Weges und sah es zum allerersten Mal: Dieses Tier, das einem den Atem raubt, wenn man seines Weges schreitet und nicht im Entferntesten erwartet, irgendwann in seinem Leben auf so was zu stoßen, geschweige denn heute.
Ich kniete nieder, um genauer zu betrachten, hielt meine Hand daneben und schauderte vor Ehrfurcht und einem klitzekleinen bisschen Angst … was für ein Riesentier! Und so ergab sich der sehr seltene Umstand, dass ich ins Haus rannte, um den Fotoapparat zu holen. Den geknipsten Bildern ist bis heute die fassungslose Ungläubigkeit anzumerken. Dass es so ein Lebewesen überhaupt gab und ich es bisher noch nie erblickt hatte!
Nach dem Knipsen legte ich die Kamera beiseite und schaute diesem anmutigen Geschöpf zu, wie es in königlicher Seelenruhe vor sich hin kroch. Es war eine Schnecke, keine Frage, und ganz eindeutig nackt, doch blieb meine gewohnte Nacktschneckenreaktion aus; kein Tötungswille weit und breit.

Wozu auch. Wenn man so aussah, konnte man nicht böse sein. (Böser Irrglaube. Ganz böser. In der Regel. Aber nicht hier.) Und man sah bezaubernd aus. Der geschmeidige Körper glitzerte im Dämmerungslicht, die sinnig verteilten dunklen Tupfen erinnerten eindeutig an eine anbetungswürdige Raubkatze – wenn auch eher an einen Leoparden als an einen Tiger, aber nu –, die Größe war atemberaubend. Ich fühlte mich beschenkt.

Nun ist es so, dass mein Garten seit jeher ein beliebter Tigerschnegel-Lebensort war, nur war mir das bis dato gänzlich entgangen. Wer Tigerschnegel nicht kennt, sieht sie offensichtlich auch kaum. Oder anders herum: Hat man seinen ersten Tigerschnegel gesehen, sieht man plötzlich überall welche. Es ist wie verhext.
Der Goethe hatte mal geschrieben:

„Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt es nie erblicken.“

Ich wette, er hatte dabei sein erstes Tigerschnegel-Erlebnis im Hinterkopf. Ganz bestimmt, aber das kann man ja nicht schreiben. Wer will schon von einem tigerschnegelhaften Auge lesen, erst recht so eines haben.
Etwas prosaischer könnte man anmerken, dass es sich hier schlicht und platt um nachtaktive Tiere handelt, deren Fellzeichnung in der Dämmerung eine chamäleonische Wirkung hat. Ist man dann über so eines gestolpert, weiß man ab diesem Moment von dessen Existenz, womit das Chamäleonische auf einen Pff verpufft.
Mir gefällt Goethes Version besser.

Wie dem auch sei, wir trafen uns allenthalben immer mal wieder, vereinzelt, bezaubert (jedenfalls ich) … und manchmal auch vergiftet. Jede Tigerschnegelleiche beweinte ich bitterlich, obwohl niemand anders als ich die Giftstreuerin gewesen war. Aber Tigerschnegel sind nicht nachtragend. Treu wurden Eier gelegt, brav wurde geschlüpft, unverhofft wurde man aufs Neue beglückt.

Vor zwei Lenzen zogen Velociraptoren in meinen Garten und mit ihnen auch ein Velociraptorenhaus. Interessant vermutlich für Füchse und Marder oder für ganz ausgebuffte Habichte. Könnte man meinen.
Viel jedenfalls dachte ich mir nicht, als ich eines Morgens zum ersten Mal die Schleimspuren entdeckte. Quer über die Häuschen-Front, rein ins Kaninchendraht-vergitterte Fenster, runter zum Futtertrog, in den Futtertrog rein, aus dem Futtertrog raus, die eine Seitenwand hinauf … es wird halt eine besonders entdeckungsfreudige Schnecke gewesen sein. Ein bisschen mehr ins Verwundern geriet ich die folgenden Tage, schien doch der nächtliche Schneckenbesuch zur Gewohnheit zu werden.
Eines sehr frühen Morgens dann ertappte ich ihn in flagranti (ich mache ihn der dramaturgischen Einfachheit halber jetzt einfach mal männlich). Er war gerade daran, sich durch ein Kaninchendrahtquadrat nach draußen zu quetschen und hielt verschämt, aber lieb blinzelnd inne, als ihn der Strahl meiner Taschenlampe erwischte. »Soso«, flüsterte ich zwinkernd, »soso«. Ich öffnete die Türe und leuchtete zu den Mädels. Verschlafen hoben sie je ein halbes Auge, machten »gock« und dösten weiter. Hinter ihnen eine schleimbespurte Wand.

Mein Herz hüpfte: Ich hatte ein neues Haustier, ein zugekrochenes, das sich seine Schlafstatt – wie ich später feststellen durfte – unter dem Wassernapf gleich neben dem Raptorenhaus eingerichtet hatte. Es war immer nur einer, ob unter dem Napf oder am Futtertrog, und ich darf die Annahme wagen, dass es tatsächlich bis heute der ein und selbe ist. Nicht nur, weil ich dort nie Schneckenkorn gestreut hatte, sondern weil diese Tiere bis zu drei Jahre alt werden können.

Nun haben ja Schnegel nebst dem Schlafen und Fressen auch noch andere Bedürfnisse, was einen beim Anblick dieser aus Sinnlichkeit zu bestehenden Wesen nicht überraschen dürfte: Dieses Langsame, Genießerische, unverhohlen Nackige, dieses Umschlingen … die können das einfach.
Wie sehr, wurde mir an jenem einen Morgen klar, an dem ich in den Stall leuchtete und man mich mit lieb beschämtem Schnegelblick und unschuldigem Gock erwartete, als wäre nichts gewesen. Nur, quer über Glorias ausladendem Bürzel erstreckte sich eine breite, verräterische Schleimspur.
Ausgerechnet Gloria. Ausgerechnet sie, die bei der Ankunft eines Velociraptorenmannes unter den Ginkgo flüchtet, um vor sich hinzumotzen, während die anderen Mädels federnzwirbelnd auf den neuen Pascha zuhopsen. Ausgerechnet Glorias Bürzel, auf dem nicht mal eine Fliege landen darf? Dieser Schlingel!
Aus der zart-innigen Anbändelei wurde ein wiederholtes Vergnügen, die Auserkorene dabei immer und nur die Gloria. Bis vor einer Woche, kurz nachdem ich beschlossen hatte, über Tigerschnegel zu schreiben.

Ich sah den etwas ekligen Schleimfaden am Topf und zwei Schnegel geschäftig davonkriechen. Einer so groß wie Glorias Liebhaber, der andere gerade mal die Hälfte davon, wenn nicht weniger. Vage erinnerte ich mich daran, dass ich von dieser Sache mit dem Schleimseil irgendwann mal etwas mitbekommen hatte, aber es blieb zu vage, als dass ich eins und eins hätte zusammenzählen können. Einen Tag später sah ich wiederum ein solches Schleimgebilde an einer Hemerocallis, nur hingen da zwei, mir bisher unbekannte, Tigerschnegel in inniger Umarmung dran. Mitten in der Luft. Und da kam mir das Bild wieder in den Sinn, das ich damals im Internet gesehen und ungläubig weggeklickt hatte: Tigerschnegel paaren sich zirkusreif an einer selbstproduzierten Liebesschaukel. Man glaubt es erst, wenn man es mit eigenen Augen gesehen und erlebt hat.
Erstaunlich, dass ich all die Jahre brauchte, um das in meinem Tigerschnegel-freundlichen Garten mitzukriegen. Tja: Wär nicht das Auge schleimfadenhaft, den Schleimfaden könnt es nie erblicken.
Doch es ging noch weiter.
Am selben frühen Morgen wollte ich das Velociraptorenhaus öffnen und sah zu meiner freudigen Überraschung eine fremde kleine Tigerschnegelin außen an der Tür. Schnegelfreundlich langsam öffnete ich Letztere und streckte meinen Kopf hinein. Der Schlingel kroch gerade zu den Velociraptorinnen rauf, während direkt über dem Futtertrog ein verlassener Schleimfaden sachte hin- und herbaumelte.

»Soso«, brummelte es schmunzelnd aus mir heraus; ich zwinkerte Gloria zu und freute mich auf viele kleine Schlingelchen.

Trivia
Als ich eben eines der oben erwähnten Fotos ausgewählt hatte, klickte ich spaßeshalber auf Informationen: Mein erster und darum historischer Tigerschnegelmoment hatte sich am Donnerstag, 24. Juni 2010, zwischen 21:42 und 21:43 ereignet. Irre.

Tigerschnegelfell war in der engeren Auswahl, als es um den Namen für diesen Blog ging. Immerhin hat es dieses wunderbare Wort nun wenigstens zu einem Titel geschafft.

Keinen Titel hingegen hat Goethes Gedicht. Hier nun alle vier Zeilen davon (und wenn das kein Tigerschnegelfell-Gedicht ist, fress ich einen Besen):

Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt es nie erblicken;
Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?

8 Kommentare

  1. Ja, klar sind diese kleinen Tiere so wunderschön. Als Kind hatt ich aber immer Angst vor ihnen!
    Aber wenn man sie genauer anschaut, dann findet innerlich trotzdem etwas statt. Wer wie ich immer im Stress lebt, lernt dann auch dass ein kein-Stress-Leben auch möglich – sogar besser – ist !!

    Bei Goethe ginge es meiner Meinung nach um die Diskussion um Geistes- resp. Naturwissenschaften. Hier beim Zitat dann darum:
    “Die Totalität des Inneren und des Äußeren wird durchs Auge vollendet.” Da nur Gleiches von Gleichem erkannt werde, “ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.”
    Wie gesagt – die Diskussion um Geist und Natur.
    Ich behaupte jedoch nicht, dass Goethe vorm Schreiben dieser Zeilen keine Tigerschnegel gesehen hatte 😉

  2. Das sind ja wunderliche Geschehnisse bei dir im VelociraptorenHaus 😉

    Und ja! – Diese SchnegelSchlingel sind faszinierend! In unserem Garten leben sie ganz versteckt, aber offenbar zahlreich. Und leider scheint ihre Gier auf grüne oder blaue Körnchen sehr groß :'(

  3. Ich dachte, sie heissen Tigerschlegel (aber in dem Moment, in dem ich das geäussert hatte wusste ich, irgendwas stimmt da jetzt nicht…).
    Ich wusste nicht, dass sie nur drei Jahre leben, auch das mit der Liebesschaukel nicht. Die grüntöne sind lehrreich!
    “Mein” Tigerschnegel lebte damals im Lüftungsschacht des Weinkellers. Just dann wenn ich damals abends noch schnell vor der Haustür hockte ist er jeweils rausgekrochen gleich neben mir. Ich glaube fast, das ist jetzt schon ein paar Jahre her. Aber dieses mein Tigerschnelgelbild bleibt wohl ewiglich ganz frisch. Und wurde mit deinem Text wieder zurückerinnert.

  4. Wunderliches trägt sich zu (und her) auf deinem Grün und von dir wunderschön beschrieben. “Grüntöne” bilden wirklich.

    Mein erstes Tigerschnegel-Erlebnis hatte ich vor Jahren als ich ich die Kompost-Abdeckung wegklappen wollte. Darunter lag ein langes getüpfeltes Getier. Gruselig. Im ersten Schreck habe ich die Abdeckung fallen lassen und rassig einen Schritt zurück gehüpft – man weiss ja nie. Um dann doch vorsichtig darunter zu linsen, weil ich wissen wollte, was sich da in meinen Kompost verirrt hatte. . . . . ein elend langes ausgewachsenes Exemplar Tigerschnegel, wirklich sehr schön. Sie sind bei mir eher selten anzutreffen und meist im feuchten Kompost-Gartenteil.

  5. Da ich schon mal am Computer sitze, habe ich bei Google nachgelesen – einfach nur faszinierend.
    L. G. Saattermin

  6. Ich hab noch nie so ein Tigerschnegelchen in freier Wildbahn gesehen :-(. Ich kriechen nur die braunen Schleimer rum.

    Eine schöne Geschichte, die du da erlebt hast Nick. Ich hab mir grad so eine Tigerschnegelliebesschaukel angeschaut. Wirklich bemerkenswert was die so anstellen um sich zu paaren. Ein Liebestanz 🙂

  7. In meiner Familie bin ich die eifrige Vetteidigerin der Tigerschnegel – leider nicht sehr erfolgreich. Man gruselt sich. In meinen Gärten sind sie nicht selten, meistens wohnen Sie im Topfquartier, irgendwo zwischen zwei ineinander gestellten Töpfen, dort, wo sich auch im Hochsommer ein Feuchtigkeitsfilm hält. So ist mein Pendant zum vorsichtigen Öffnen des Hühnerstalls das Auseinandernehmen der Topfstapel.
    Danke für diesen liebevollen Text.

    1. @ Prinz Philippe
      Du nennst diese Tiere klein? Kla-hain??? 😉

      @ Wühlmaus
      Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, dass ich dank der Velociraptoren auf Schneckenkorn verzichten kann. Der Anblick einer Tigerschnegelleiche war jedes Mal einfach nur furchtbar. Und ja: Die stürzen sich förmlich drauf! Mpf.

      @ neo
      Was für eine wunderschöne Erinnerung! Ein abendliches Stelldichein sozusagen. Die Schlingel können sich also auch Menschen äusserst freundlich zuwenden, nicht nur breitbürzligen Glorias.

      @ Saattermin
      Ein sogenannter erster Tigerschnegelschreckmoment. 😉 Wie gesagt, mir rutschte damals das Herz auch leicht nach unten.

      @ Bienchen
      Wer weiss, geh mal des Nachts durch den Garten. Vielleicht wuseln da ganz viel bei dir rum, aber um die zu sehen, braucht’s halt das erste Mal und das findet am besten spät abends oder schrecklich früh morgens statt. Bitte gib Bescheid, wenn du deinen Ersten siehst! 🙂

      @ Oile
      Der Satz ist ja herrlich: “So ist mein Pendant zum vorsichtigen Öffnen des Hühnerstalls das Auseinandernehmen der Topfstapel.” Topfstapel als Tigerschnegelwohnanlange … die haben’s gut bei dir! (Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass deine Familie sich nicht an den Töpfen zu schaffen macht, weil Nichtgärtner.)

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