Kreislauf

Uns ist eine mitunter äußerst praktische Angewohnheit inne: Wir sehen, was wir sehen möchten, und sehen möchten wir in der Regel Einfaches. Das nennt man dann menschliche Wahrnehmung.
Wenn ich also hier und jetzt auf dieses eine leere Blatt, das auf der groben Granitsteinplatte unseres Sitzplatztisches liegt, mit einem Kugelschreiber ein großes 0 hinkrakle, mir dabei sogar Mühe gebe, den Anfang nicht mit dem Ende zu verbinden, das Resultat in die Höhe halte und frage: „Was ist das?“, dann wird jeder wahrnehmende Mensch unwillkürlich „ein Kreis“ sagen. Behaupte ich jetzt einfach mal so.

Es könnte ja nun sein, dass ihr mir das nicht einfach so glauben wollt, ich tat es nämlich gerade selber nicht. Was also liegt näher als das: Blatt auf Holpergranit und mit Kugelschreiber bewusst nachlässig hingekrakelt, um es meinem Probanden unter die Nase zu halten. Auf dem Weg zu ihm betrachtete ich das Resultat – mit bemühter Interpretation hätte man es ein Ei nennen können, mit mehr Liebe zur Wahrheit glich es eher einem unterirdisch wachsenden Gemüse mit typischer Delle. Mist, velociraptorischer! Warum musste ich gerade heute dem Nichtgärtner von den neuen Kartoffelsorten erzählen, die ich zu pflanzen gedenke? Natürlich würde er spontan erinnernd „Kartoffel“ sagen und ich dürfmüsste dann einen neuen Anfang für diesen Text finden. Mutlos suchte ich den Mann meiner Begehr, fand ihn, hielt das Blatt in die Höhe und fragte: „Was siehst du?“ Er sah das Blatt an, danach – leicht verstört – mich und antwortete: „Na. Einen Kreis. Warum?“

* * * * *

Als ich den Garten übernommen hatte, übernahm ich auch, was allgemeine Großvadders und -muttern noch wussten: „Kipp da mal ordentlich was von der schwarzen Flasche drüber, dann ist Ruhe im Blattlaus- oder Sonstwas-Karton! Und dann gibste Dünger aus, satt und viel, sonst kommt das Zeug nicht in die Puschen, sag ich dir. Dafür nimmste am besten den Gartensegen.“ (Nicht erfunden. Einen mineralischen Volldünger dieses Namens gibt es hierzulande tatsächlich.)
Nach zwei Jahren diversen Schwarzflaschengebrauchs und Nichtdüngens – da war ich, ich gebe es zu, einfach zu faul für – musste ich zum Zahnarzt.

Man wies mich ins Wartezimmer und folgsam setzte ich mich auf einen der neun transparenten Stühle. Vor mir lagen etliche Zeitschriften, die ich in meinem Leben nie lesen, geschweige denn kaufen würde, in den vier Ecken standen Kübel mit gepflegten Grünpflanzen, die nur deshalb so gut gediehen, weil sie stinklangweilig waren. Nach fünf Minuten tat mir der Popo weh. Nach sechs griff ich leise seufzend zu einer magersüchtigen Frauenzeitschrift, ließ die neusten Must-haves und Trends über mich ergehen und blätterte dann um.
Kaum hatte ich die Wörter „Buch“, „gärtnern“, „genial“ erhascht, sah ich das Bild eines Buchdeckels mit einem unverschämt sympathischen Menschen drauf und war auf Anhieb platonisch verliebt. Hastig verschlang ich die lobeshymnische Rezension und sah drohend-augenbräuig zur Praxisgehilfin auf, die kurz vor dem letzten Satz meinen Namen ins Zimmer zu rufen gewagt hatte.

Ohne Löcher, mit leichtem Parodontose-Befund und glücklicher Ahnung im Herzen düste ich nach Hause und hielt eine Woche später erwähntes Buch in ehrfurchtsvollen Händen.
Einer Zahnarztpraxis habe ich den Wendepunkt in meinem Gartendenken und -trachten zu verdanken. Unsexy, aber nachträglich nicht zu ändern.

* * * * *

Der unverschämt Sympathische hieß Monty Don und tut das immer noch (sympathisch daherkommen und heißen). Und selbst heute, mehr als ein Jahrzehnt später, hat dieses eine seiner Bücher einen speziellen, raumgreifenden Liegeplatz in meiner Gartenbibliothek inne und wird immer mal wieder hervorgeholt, gestreichelt und andächtig durchgeblättert.

Nachdem ich das erste Drittel zum ersten Mal gelesen hatte, packte ich kurzerhand alle Schwarzflaschen und sowieso unnötigen mineralischen Dünger zusammen und schenkte sie einem Bekannten, der sich so sehr darüber freute, dass ich peinlich berührt anmerkte: „Du, ich hätt das Zeug sonst einfach weggeworfen. Keine große Sache also.“ Er sah mich – leicht verstört – an und umarmte mich dann aufs Herzlichste.
Tja. Biologisch zu gärtnern macht glücklich.

Da stand ich also, rührte selbstvergessen in meiner ersten Brennnesseljauchenpampe und hatte eine leise Ahnung von dem, wonach ich künftig sehnsüchtig zu trachten gedächte: Dem Kreislauf. Dem perfekten, weil natürlichen. Dem einen ultimativen Perpetuum-mobile.
So stetigmobil jedoch war meine Jauche nicht, da konnte ich noch so gleichmäßig drin rühren: Die Brennnesseln kamen zwar aus meinem Garten, aber das Wasser, mit dem ich die Jauche ansetzte, plätscherte aus dem häuslichen Wasserhahn und nicht aus der Regentonne. Die erste zarte Delle im Kreislaufkreis.

Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf das Wild. (Vielleicht wird sich an dieser Stelle jemand fragen, warum ich anstelle der Ablenkung nicht einfach ein paar Regentonnen aufgestellt hatte. Die Frage ist gut.) Das kleine und ganz kleine Wild meine ich, Blattläuse, Virbakterien und so. Und es war, wie mir meine beste Schwiegermutter aller Zeiten prophezeit hatte: „Nach dem Umstieg auf Bio wird es etwa drei Jahre dauern, bis sich der Garten eingependelt hat, aber das Warten lohnt sich.“ Es dauerte exakt drei Jahre, in denen ich mich mitten in Johannes’ Offenbarung wähnte. Es regnete so viel Blattlauspipi vom Wisterienhimmel, dass man nach einer Stunde Sitzplatzaufenthaltes karamellisiert von dannen ging. Unzählige Bösewichtel – von Dickmaulrüsslern bis zu dicken Maulwurfsgrillen – flogen von weither und krochen aus tiefsten Erdschichten herbei, um sich auf die wehrlosen Opfer zu stürzen, und der jämmerliche Pflanzenrest pilztaurostete in allen Formen und Farben. (Der Bequemlichkeit halber habe ich die Pilze zur Fauna gepackt. Das ist der Vorteil an Literatur: Da darf man so was.)

Im vierten Jahr war der Spuk vorbei, als hätte jemand auf einen Schalter gedrückt. Und es begann sich der zweite Teil der schwiegermütterlichen Prophezeiung zu erfüllen: „Und von da an wirst du jedes Jahr neue willkommene Tierchen in deinem Garten sehen.“ Und dem ist bis heute so. Kein neues Jahr ohne neue Schmetterlinge, kein neues Jahr ohne ein neues Schädling-fressendes Krabbeltier, dem ich auf allen Vieren so staunend wie hocherfreut begegne. Ein kugelrunder Kreislauf, wären da die Schnecken nicht gewesen.

Es hätten sich diesbezügliche Nützlinge eingefunden, Igel etwa, bloß wurden sie von meinen konventionellen Hunden dermaßen angekläfft, dass Erstere so panisch wie taub geworden die Flucht ergriffen.
Hunde sind nicht gartenförderlich.
(Außer für den Rasen. Keiner in der Nachbarschaft hatte stickstoffwechselbedingt so einen dunkelsattgrünen strotzenden Rasenteppich wie ich. Wenn auch mit Flecken. Aber der unbefleckte Rest war Hammer.)
Die zweite, sehr große Delle in meinem Kreis: Das Schneckenkorn.

Und spätestens dann denkt man an die Erde. Und das Düngen, wobei wir wieder beim ersten Punkt wären – selbst hier im Text läuft es im Kreis.
Der einfachste aller Kreisläufe ist der Kompost. Man gibt der Erde zurück, was man ihr genommen hat, eine kugelstrunde Sache also. Denkt man, löffelt selbstvergessen eine Avocado aus und wirft die Schale in den Komposteimer, der mit einer kompostierbaren Tüte aus Maisstärke versehen ist. Ups. Nicht von hier. Beides nicht von hier. Der Kreislauf hat inzwischen sehr große Dellen und sieht aus wie eine Kartoffel.

Als beste Dellenglätter überhaupt dienen mir meine über alles geliebten Velociraptoren. Nebst Gras, Vergissmeinnicht, Fingerhüten, Campanula poscharskyana sowie Waldmeister vertilgen sie auch Schnecken. So erfolgreich, dass dieses Jahr die Rittersporne ungetrübt ihre Triebe treiben, ohne dass ich auch nur einen Krümel Schneckenkorn in die Hand genommen hatte. Außerdem verdanke ich ihnen einen „Gartensegen“ der hausgemacht ist und einfach so, an nötiger Stelle aus ihrem Popo fällt, während sie gerade eine Wanze oder ein Rosenblütenblatt vertilgen.
Nur … dieser Kreis läuft auch nicht so geschmeidig rund, denn vieles, was hinten rauskommt, stammt, vorne reingeschoben, nicht aus diesem Garten. Aus der Kartoffel ist inzwischen eine Spirale geworden.

Bliebe noch der eine letzte, wirklich perfekte Kreis: Aus dem Federpopo kommt ein anderer Segen und aus dem wiederum irgendwann ein Raptorenbaby. Bis zum „Irgendwann“ braucht es aber mindestens eine Glucke, die drei satte Wochen lang nichts anderes tut, als die Eier zu wärmen und regelmäßig zu drehen. Ihr ahnt es. Keine meiner Mädels meldete ein Interesse an, nicht mal zu Ostern.
Und so brütet mit leisem Brummen ein elektrischer Apparat links neben meinem Schreibtisch vor sich hin. Immerhin ist er rund wie ein Ei.

* * * * *

„Hallo? Waru-hum!“ rief mir Nichtgärtner hinterher.
„Das wirst du bald sehen!“ rief ich zurück, setzte mich wieder an den Granittisch, legte das Blatt neben den Laptop, betrachtete die selbst gezeichnete spiralige Kartoffel und gluckste zufrieden.

4 Kommentare

  1. Guten Tag Nick
    Erfreulich von dir zu lesen.

    Du kannst dir sicher gut vorstellen, weshalb dieses Mal, das mein Lieblingssatz in deinem wohltuenden Text ist. 😉
    >Der einfachste aller Kreisläufe ist der Kompost.

    Schön geschrieben
    Gutes weiter kommen in der Gartensaison 2016.

    Herzlichste Grüsse
    Natternkopf

  2. Liebe Nick, dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

    Ach doch, eine klitzekleine Kleingkeit: Mein Zweitgarten ist auch mein Gemüsegarten. Mit dem Kreislauf klappt es da nicht ganz: Ich ernte, bringe das Gemüse nach Hause, verarbeite es, werfe die Reste auf den Kompost – auf den des Hausgartens! Der Zweitgarten geht leer aus. Kompost ist trotzdem genug da, aber auf Dauer, wie ist das? Manchmal sammle ich Gemüseabfälle und fahre (!) Eimer mit Kompostmaterial aus der Küche in den Zweitgarten, für den Zweitgartenkompost. Ein bisschen bescheuert komme ich mir da schon vor.

  3. Herzliche Gratulation zu 2 Jahre Grüntöne.
    Ich lese deine Grüntöne-Texte zwar erst seit wenigen Monaten,
    aber trotzdem freue ich mich seitdem immer sehr über deine Texte.
    Weiter so! Dass deine Kreislauf-Kartoffel noch lange kugelrund
    herum eiert. So sind es schliesslich ihre Dellen, die sie auszeichnen.

    Du glasierst sogar die Schattenseiten und das Leid der Pflanzen
    ab dem Verzicht auf Schwarzflaschen und Dünger mithilfe
    des Bildes von zuckersüssen Ausscheidungen nicht
    so süsser Schädlinge. Der Garten, ein Ort an dem
    bei einer Schädlingsplage Honig fliesst. Fehlt nur noch
    die saure Milch, die Pflanzen produzieren, um die hungrigen
    Mäuler zu verkleben 😀

    1. @ Natternkopf
      ;-D
      @ oile
      Köstlich! Sei versichert: In deiner Situation täte ich exakt dasselbe. Und wenn zwei dasselbe tun, kann’s so bescheuert nicht sein. (Reden wir’s uns wenigstens ein.)
      @ Tobias
      Du bist ein Schatz!!! *schmatz*

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