Prilma

Gerade wollte mir eine Velociraptorin über die Tastatur staksen und dabei womöglich noch stoffwechseln. Hätte ich diese zweite, recht wahrscheinliche Möglichkeit nicht in Betracht ziehen müssen, hätte ich ihr sehr gerne den Anfang dieses Textes überlassen. Zu meiner Stimmung würde dies zweifellos passen, denn seit bald vier Wochen bin ich voll angespannt erregter Neugier, was denn da und dabei so rauskommt, warte ab, lasse den Dingen ihren Lauf und bin dann darüber belustigt, überrascht, erfreut, verzweifelt oder könnte ins nächste Tischbein treten.
(Eigentlich hätte ich sie drüberwatscheln lassen sollen.)

Da liegt eine riesige, füllgehörnte Wundertüte vor mir, in die ich nach Lust und Laune, gerne auch viertelstündlich, reingreifen und was Neues herausziehen kann … eine für Erwachsene, denn mitunter speit mir das Neue direkt ins Gesicht, um es mal blumig auszudrücken. Trotzdem. Da bin ich völlig Kind, knabbere am blaugefärbten Daumennagel (Küchentüre), zupfe am Hosenbein rum (es staubt), vergesse hin und wieder zu atmen, greife rein und halte mir das Ding vor die Nase.

Ach, meine Lieblingscimicifuga kommt zum Vorschein. Sie gehört zu den Alteingesessenen, die ich von Nanoaustrieb bis Blattfall kenne wie meine Latzhosentasche, nichtsdestotrotz hat sie nichts von ihrem Frühlingsüberraschungszauber verloren. Jedes Jahr geht sie etwas mehr in die Breite, und ich werde nicht müde, ihre aufrollbretzelnden Triebe so lange durchzuzählen, bis ganz sicher keine neuen mehr erscheinen. (Und dann zähle ich nochmals. Mindestens eine Woche lang.)
Zählen hat was ungemein Befriedigendes. Bei meinen beiden Podophyllums „Spotty Dotty“ zelebriere ich es regelrecht, sind doch ihre Triebe seit inzwischen drei Jahren, sagen wir mal: übersichtlich. Enttäuschend, dass besonders die größere der beiden fest entschlossen zu sein scheint, ihr Gewicht zu halten, sprich: stur und bockig nur zwei Triebe in die Höhe zu schieben. Doch beim gestrigen Wundertütengang schaute ich etwas genauer hin: Blütenknospen! Zum allerersten Mal!
So schnell verfliegt Enttäuschung.

Auch wenn ich meine Pflanzen dann am liebsten mag, wenn sie prall, beinahe berstend voller Lebenssäfte in ihrer endgültigen Größe – so klein die auch sein mag – prunken, ihr erstes Hervorgucken nimmt mich in einer Art gefangen, wie sonst kaum etwas. Es steckt Verheißung drin, wisperflüsterndes Versprechen, neu erwachter, vibrierender Lebenswille. Wie ein Morgen, kurz bevor die Sonne aufgeht. Der Hahn kräht, die Vögel zwitscherpiepen, und doch, es ist ruhig, der erwachende Tag zittert wohlig in der kühlen Frische, Tautropfen glitzern in der aufhellenden Dämmerung und der erste Kaffee mit Zigarette schmeckt nie so gut wie jetzt. Voller Tatendrang und Zuversicht weiß man: „Heute wird ein guter Tag. Und heute werde ich ganz bestimmt endlich mal den Check-Termin beim Zahnarzt vereinbaren, die gesamte Wäsche erledigen, den ungeliebten Hang jäten, mit dem nächsten Grüntöne-Text beginnen und daneben das tun, was am Ende des Monats den Kontostand hebt.“ (Abends stehen dann der Zahnarzttermin, zwei Drittel der Wäsche und der gejätete Hang noch immer auf der Warteliste, aber egal. Darum geht’s ja jetzt nicht.)

Zurück zum ersten Hervorgucken. Das andere Hinreißende daran: Jedes pflanzliche Geschöpf hat seinen ureigenen Morgen. Die Dotty sticht da ganz besonders heraus. Wie ein außerirdisches Pilzgewächs schält sie sich verschämt zugeklappt aus der Erde und nimmt sich wundervoll viel Zeit, den exzentrisch gefleckt-gepunkteten Schirm aufzuspannen. Im Farnwehhang, wo die beiden Dottys stehen, geht es ähnlich bizarr zu. Unzählige Stängel rollen Richtung Himmel und erinnern mich an zeitlupenausfahrende Schneckenfühleraugen. Beim Weiterschlendern werde ich unsanfter an eben diese Tiere erinnert: Übers Geländer gebeugt linse ich runter ins Hostabeet. Konische Spitzen bohren sich aus dem Erdreich, einige dunkelgrün, andere violett gefärbt, wieder andere lassen Panaschiertes erahnen. Der Anblick hat etwas brachial Martialisches, etwas testosteronig Männliches. Vermutlich zögere ich darum im Frühfrühling stets etwas, die einzelnen Exemplare mit „Hosta“ anzusprechen; „Horst“ kommt für meinen Geschmack und meine wohl oft abwegige Fantasie deutlich besser hin. Bei der anfänglichen Entfaltung sind es dann Hostahorste und schließlich, wenn das Beet wolkig rund überblättert ist, ja, dann sind’s Hostas, durch und durch.

Das Schneckenkorn vergessend drängt es mich zum Thalictrum delavayi „Splendide“, wo auch immer es sich genau aufhalten könnte. Die aquilegifolias sind alle schon munter am Entblättern, die flavum „Tukker Princess“ bereits so groß, dass ich zitternd an Bondage denke, aber sie, die Eine, ich finde sie seit Wochen nicht. Dabei hatte ich sie letzten Sommer bewusst so gesetzt, dass ich mich im Frühling ganz sicher würde erinnern können. Und ganz bewusst die beiden mickrigen Stängel auf Mahnmal-Höhe runtergeschnitten. Ich sah in einer Myosotis-Lichtung wohl einen trockenen Stängel, aber mochte er es sein?
Inzwischen – es sind quälende Tage verstrichen – war da etwas. Mickrig, grün, schlank, zu schlank irgendwie, und oben eigentümlich abgerundet. „Schnecken!“ durchfuhr es mich. Oder nicht? Wenn es die Splendide sein sollte, ich betone: wenn, dann … ja, dann weiß ich es eben nicht. Was für ein Thrill! Neuaustrieb bei Neuen ist wie das Vorstellen deines/deiner Neuen bei den eigenen Eltern. Es ist dir ernst genug, die Sache durchzuziehen, aber du hast keine Ahnung, was dabei rauskommt. Fantastisch kann es ablaufen und genau so gut grausam in die Hosen gehen. Nicht, dass ich etwaige Schwiegereltern in spe mit Schnecken vergleichen möchte … oder mit Mutterboden … zurück zum Thema:
Dieses Jahr sind es ganz besonders viele Neue, die Wundertüte darum noch praller gefüllt mit der doppelten Extraportion Bangen und Hoffen.

Mit großer Enttäuschung und Tischbeintreten seien vermeldet: Die Knoblauchsraukenhorstin (die finde ich auch im Austrieb sehr weiblich) befand ihren letztjährigen Auftritt für genug und ist durch irgendein Hintertürchen verschwunden. Die Sarastro-Campanula ist bis heute nicht aufgetaucht, die Suche gebe ich hiermit offiziell auf. Es sind schon wieder „Grog“-Nepetas über den Jordan geschneckelt. Der am perfektesten platzierte fette Sternkugellauch hat sich entmaterialisiert (zum Glück hab ich ganz, ganz viele andere) und ich habe nicht im Entferntesten eine Ahnung, warum (nein, keine Wühlmäuse, die gibt es hier nicht). Die Velociraptoren haben erfolgreich meinen vielfarbigen Teppichthymianteppich blankgetreten (weil deren Lieblings-Autobahn) und einen Drittel der Triebe zweier brandneuer Amsonias totgetreten (wenigstens sind die anderen drei unbeschadet). Die „Au, Hammer! Kornblumen! Das wird ein blaues Meer, sag ich dir!“ entpuppten sich als – weiß der Geier wie – versamte Lunarias in Weiß, immerhin taillenhoch und überbordend blühend. Der Sokratesmörder Schierling hat sich versamt, juhuu, und fand dann, er wolle lieber ein Schöllkraut sein.
Auch hier belasse ich es bei exemplarischen Beispielen.

Und wären der Enttäuschungen mehr als der beglückenden Glücksgriffe aus der Wundertüte, es ist alles prima. Weil jetzt. Nie ist das Gras sattdunkelgrüner, nie das Licht so vorteilhaft sanft, nie regnet der Blauregen so blau und viel, ist der Ginkgo so jugendlich frisch, sind die Versprechen so groß, ist noch alles möglich. Die ungefähre Zeit zwischen Mitte April und Mitte Mai hätte meines Erachtens einen eigenen Namen verdient, nur wollte mir nichts Prägnantes einfallen. Ich zähle da auf euch.

Der Laptop liegt auf meinem Schoß, ich sitze auf dem hässlichsten verstellbaren Liegestuhl, den die Menschheit je produziert hatte (aber er ist gepolstert), die Füße in lila Crocs (den hässlichsten Schuhen, die die Menschheit je produziert hatte, aber praktisch) abgestützt auf der Sitzfläche eines schönen Gartenstuhls, es regnet mal wieder. Eine Velociraptorin sitzt neben meinen Füßen, die andere auf meinem einen Schienbein. Reicht nicht für die Tastatur. Tippe ich halt das Ende selber.

Gartentagebuch. 22. April 2006.
„Auch der 2. Salomonsiegel kommt! Jetzt wird alles gut! Bin ganz aus dem Häuschen!“

2015. Die Salomonsiegel kommen, trotz gewalttätigen Abstechens letztes Jahr. Es wird wieder großzügig abgestochen und dem Überübernachbarn überreicht („Ich will schon sooo lange den Salomonsiegel, hast du wirklich ein Pflänzchen für mich? Echt?“) Gartentagebuch-Update:
„Auch der 2. Salomonsiegel kommt wieder. Mpf!“

Aber es ist Pri(l)ma.

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