Heute stapfte ich in meiner Viertelstunde wieder mal trostlos zwischen den kaum zu erahnenden Beeten hindurch und war grundsätzlich schlechten Mutes. Seit bald einem Monat kann mich nicht mal der Blick auf die nächstens zu schneidenden Gehölze aufmuntern – normalerweise mein Motivationskick sondergleichen, etwa so wie die Vorfreude auf ein einmaliges, befreiendes, rauschend-beseligendes Ereignis (Weihnachten, Sommerferien, das erste Date, lauter so Zeugs halt, deren Vorfreude – im Gegensatz zum tatsächlichen Gehölzschnitt – in keiner Relation zum oftmals enttäuschenden Ereignis stand). Es streift nur kurz den Gedanken „Gehölz. Schneiden. Sägen.“ und kurz später finde ich mich wieder unter einem der Hölzernen, umrunde es, blicke an ihm hoch, baldowere da, dort, drüben die besten Ansätze aus und vergesse darüber die Zeit. Momente stillen Glücks und lauten Tschakka!-Gefühls.
„Tscha-ka-pffff“ jedoch ist die einzige Reaktion, die mir in letzter Zeit entfleuchen kann, und heute war es nicht anders. Keine Lust. Schneiden doof. Mein Blick streifte die gefrosteten und verschneiten Helli-Blüten (ich hab’s ja gesagt, oder?), die knapp zu erahnenden, jämmerlich blühenden Galanthüsser, die anscheinend verheißungsvoll verklebten, vor „Aufplopp“-Lust zitternden Knospen allüberall, die weißen Gemüsebeete, und blieb schließlich an der vereisten Vogeltränke kleben. Alles doof.
Die zähe Masse an Freudlustlosigkeit breitete sich ungehindert in mir aus, dumpf, schwer, klebrig. Träge kickte ich eine gefrorene Velociraptoren-Ausscheidung von der Platte. Ungerührt blieb sie an Ort und Stelle. „Nicht mal das kriegst du hin.“ Alles doof. Ich am allermeisten.
Entnervt blickte ich auf das weiß-braune Ding und spürte zögerliche Angst hochkriechen: Könnte das Undenkbare geschehen sein? Das, womit ich am allerwenigsten gerechnet hätte? Was schlicht nicht sein darf, nie einzutreten hat? Bin ich vielleicht – ich wagte es kaum anzudenken – des Gartens …
überdrüssig geworden?
Fahrig kramte ich nach allem, was mich in ähnlichen Doof-Momenten immer und sekundenschnell rausreißen konnte. Die Karte mit dem Gehölzschnitt war schon ausgespielt, also raschen Schrittes zum Kalten Kasten, um die Polystichum-Brutknöllchen-Station zu begutachten – funktioniert bei mir wie der erste kräftige Schnupf Schnee bei andersgearteten Zeitgenossen. Ich öffnete den Deckel, linste hoffnungsvoll rein … und schloss ihn tief enttäuscht. Nö. Es weiteten sich weder Pupillen noch Lächeln. Ratlos sah ich an der Feige hoch – die mumifizierten Herbstfrüchte runzelten mich so hämisch an, dass mir jegliche Lust verging, nach embryonalen Sommerfrüchten zu suchen. Wäre auch so ein Trick gewesen – bis März hatte ich in den vergangenen Wintern diese Minikügelchen etwa dreißigmal gezählt und mich allein daran schon dusslig gelabt. „Geh zu deinen letzten Neuerwerbungen, das hilft, sag ich dir!“ Schlurfend, aber gehorsam zottelte ich die vier Kandidaten ab, blieb jeweils davor stehen, wartete auf die zu erwartenden Herzrhythmusstörungen und gab schließlich auf. In meinen Schuhen rann geschmolzener Schnee durch die Socken.
Tscha. Kaaaaa.
Unschlüssig blieb ich stehen, überlegte, ob ich überhaupt noch Bock drauf hatte, mich aus der Gartendepro rauszuholen und steckte die bläulichen Hände mitsamt den sauberen Fingernägeln in die Jackentaschen. Hinter meinem gramerfüllt gebeugten Rücken drang ein mummeliges Gickern durch des Raptorenhäuschens Wände – alle saßen schon kuschlig auf der Schlafstange, waren mit sich und der Welt zufrieden und bekundeten dies mit hie und da flüsternd eingestreuten „Gi-gicks.“ Dann eben. Auf zur eigenen Schlafstange. Ich setzte mich in Bewegung, wollte laut seufzen, hatte aber keine Lust dazu und ließ es bleiben. Ungelenk zirkelte ich die vereiste Waschbetontreppe runter, wollte gerade „Waschbeton. Oberdoof.“ denken, als mir auf einen Schlag sämtliche Schuppen von den Augen fielen:
„Menschensblechle!“
Ich riss die rechte Hand aus der Jackentasche und schlug mir dreimal auf die Stirn. Vor Erleichterung etwas zu doll, aber das war mir nun auch egal. Rotstirnig eilte ich ins Haus, startete den Computer, öffnete Word und schrieb: „Morbus Helveticus“.
Es war einmal eine Handvoll Schweizer Buben, vermutlich Söhne von Bergbauern, gescheit gewachsen und von kräftiger Statur, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, statt Kühe und Ziegen zu melken, Käselaibe zu rollen und mit Gänseblümchen im Mund neben dem plätschernden Brunnen zu liegen, was richtig Anständiges zu tun. Nämlich sich in bunte Kleidchen zu stürzen, mit Hellebarden zu bewaffnen und den ganzen Tag lang vor vatikanischen Türen zu stehen.
Was sie nicht bedacht hatten, und dies sei ihnen verziehen, lebten sie doch in einer höchst immobilen Zeit, war das Heimweh. Da standen sie adrett rum, schauten starr auf irgendeine Marmorfigur und wollten nichts anderes als das Gesicht in Blüemlis Hals zu vergraben (Blüemli war zwar nicht die beste Milchkuh, aber von ausgesprochen sanftem Gemüt), sich das juckende Heu unter dem Sennenhemd rauszupopeln und rüber zum „Altmann“ zu sehen, dem Felsen, dem sie früher täglich einen guten Morgen gewünscht hatten. Der italienische Singsang hing ihnen genauso zum Hals raus wie die viel gepriesene Olivenöl-Küche. Und dazu diese stupide ewig scheinende Sonne! Nach dicken Schneewänden gelüstete es sie, nach Speck und Käse und Fett, nach Blüemli und Vreni (die Tochter des Bergbauern vier Luftlinienkilometer weiter. Aber die hatte inzwischen sicher dem Sepp ihr Jawort gegeben. Verflucht.).
Tatsächlich welkten einige der Schweizer Garde dahin, gewisse so sehr, dass sie gar der Tod ereilte. Die etwas rat- und darum nutzlosen Mediziner nannten das bisher unbekannte Heimweh „Schweizer Krankheit“. Tja. Damals gingen Kinder nicht ins Skilager und telefonierten nach zwei Tagen schluchzend nach Hause: „Hol mich ab, hier ist alles doof! Will heim!“ (Meine Mutter tat es nicht, was ich ihr bis heute nachtrage. Hätte ich nur mehr gewusst. Ein „Mama, ich leide an Morbus Helveticus! Ganz arg!“ hätte sie vermutlich veranlasst, mich per Krankenwagen oder vielleicht sogar Helikopter nach Hause bringen zu lassen.)
Dies zum historischen Kontext. Und genauso steht’s mit mir. Ich bin zwar in keinem Skilager, aber metaphorisch kommt es diesem Zustand äußerst nahe. Heimweh habe ich. Von Heimweh zerfressen bin ich. Und wenn nicht nächstens ein Frühlingshoffnungsschimmer daherhüpft, kann ich für nichts mehr garantieren.
Diese drögen immergleichen „meine Viertelstunden“ halte ich keine fünf Minuten mehr aus. Ich will, dass sich was tut, dass es reckt, windet, ploppt, fällt, bestäuben lässt, versamt, ich will mich in Efeu und Borretsch wälzen, egal, wie sehr es mich danach juckt, will mich kopfvoran in reifen Kompost stürzen, möchte verjauchende Brennnesseln riechen, möchte (aufgemerkt!) auf fettgrünem Rasen mähen oder auch braunem – furzegal, sehne mich nach einem Unkraut, das ich zupfen kann … ich will, verdammt noch mal, ich will meinen Garten zurück!
Erstaunlich. Fürwahr. Dass ich, von Kindesbeinen an Entwurzelte und Heimatlose (nicht wegen des Skilagers) meine Heimat letztlich im eigenen Garten finden würde, hätte ich mir mit aller Fantasie nicht vorstellen können. Noch erstaunlicher daran, dass ich so viele Jahre gebraucht hatte, um das zu merken (oder aber diesen ganz blödbösen Winter). Und so wirklich richtig erstaunlich ist, dass es mir seit dieser Waschbetontreppenerkenntnis wieder gut geht. Nein, Nick, du bist nicht überdrüssig, wenn, dann höchstens überdrüsig. Das Morbuszeugs verschwindet allerspätestens beim Auftauchen des ersten Wollschweberpopos vor deiner Nase.
Seit dem Tippen des Titels sind einige Tage ins Heimatland gegangen und damit einige Gedanken mehr dazu, wovon ich euch nur einen antun werde: Der Schweizer Gardist, nennen wir ihn Urs, sehnte sich nach Blüemli, Vreni und so. Aber streng genommen sehnte sich Urs nach der einen Scholle, die Blüemlis, Vrenis und Käselaibe produzierte. Der Urs hat das schlicht nicht gewusst, dass er eigentlich an „Morbus hortensis“ litt. Hätte ihm das geholfen? Wohl kaum. Mir aber schon.
(Und wie. Heute, zwei Tage nach diesem letzten Satz hellegebärdete ich mich freudlustvoll unter, auf und im Kirschbaum. Ist alles wieder gut.)