Als ich zum ersten Mal las, wie viele Jahre, Jahrzehnte, im unvorstellbar grausligen Fall Jahrhunderte gar Samen im Boden vor sich hindämmern können, bis sie die Gegebenheiten für ihrer würdig befinden und loskeimen, hatte ich Unkraut vor Augen und hätte mich am liebsten auf der Stelle entleibt. Schon der zuvor vernommene Spruch: „Jäte ein Jahr lang nicht und du wirst sieben Jahre Unkraut ernten“ war mir menetekelsches Damoklesschwert sondergleichen. Die Jahrhunderte aber … ich stellte mir vor, wie ein Dinosaurier Ackerwindensamen kotete, ganz, ganz viele und zwar genau in meinem ein bisschen später zu seienden Garten … (Horrorfantasien halten sich für gewöhnlich nicht an wissenschaftliche Erkenntnisse. Da sind auch blütenpflanzensamenkotende Dinosaurier möglich.)
Wie unschwer zu erkennen ist, hatte ich mich damals nicht meiner selbst entledigt. Wäre auch gar zu dusslig gewesen. Wer gibt sich schon wegen Unkrauts die allerletzte Kante? Wegen eines ordinären Sachverhalts, der zum Gartenleben dazugehört wie Mehltau zu dahinscheidenden Vergissdichnichts? Bitte.
Außerdem haben auch Ununkräuter Samen und können mitunter dieselbe eherne Hartnäckigkeit an den Tag legen; insbesondere dann, wenn man in einem Garten zugange ist, der vor einem schon einer war.
Meiner war das vorher schon. Und ich tat genau das, was 99% aller Purler befürchten, verfluchen, bemitleiden: Bar jeden Wissens machte ich alles gründlichst und sauber platt. Das im Rausche des „So. Jetzt bin ich da und jetzt wird da genau das wachsen, was ich will und nix anderes!“ Im Nachhinein danke ich meinen Vorgängern auf Knien, dass sie in etwa dieselbe Ahnung vom Gärtnern hatten wie ich damals. Trotzdem unterliefen mir dabei einige Entgleisungen, wie etwa das großzügige Kompostieren von Semperviven, die ich heute wieder nach und nach ansiedle (wenn auch nicht an derselben Stelle), aber im Großen und Ganzen konnte ich da nicht viel falsch machen. (Ich stelle mir gerade vor, ich hätte damals einen Garten von einem Kenner übernommen. Das, ja, das wäre wirklich ein Entleibungsgrund. Im Nachhinein.)
Ein schlummernder Samengarten hoch zwei also. Und die sind schlau, die Samen. In den letzten Texten war nebenbei die Rede von der Walzenwolfsmilch. Wär die früher auferstanden, hätte ich sie erbarmungslos gemeuchelt (weil oberhässlich, spießig und wuäh). Aber nein, das gerissene Ding wartete ab, bis ich im Euphorbienhype bin und reckte seine Triebe erst da keck durchs Staudendickicht, auf dass meine lüsternen Augen es erspähen, ausstechen und in seinen anständigen Lebensbereich befördern würden. Denkt euch das mal durch. Da wird einem ganz anders. Die Dinger sind nicht nur hartnäckig, nein, die wissen, wie wir ticken!
Jedenfalls haben es die Trilliarden Potentilla-fruticosa-Samen bislang nicht gewagt, auch nur in Gedanken loszukeimen, obwohl ich denen so aus dem Bauch raus nicht wirklich gewiefte Durchtriebenheit attestieren würde. Ja, da bin ich parteiisch und schäme mich nicht mal deswegen.
Gerade heute saß ich auf der Waschbetontreppe, guckte selbstvergessen einem meiner Velociraptoren zu, wie er auf der Suche nach Pickbarem die neu gesetzte Clematis heracleifolia „Mrs. Robert Brydon“ umrundete, und hielt inne … neben dem Schuppenfuß: ein Sedum spurium. Das findet ihr jetzt vermutlich nicht so umhauend wie ich, aber ihr könnt es ja auch nicht wissen. Im vorletzten Frühling entdeckte ich dieses Sedum zum ersten Mal in einem Fremdgarten und wurde von einer monstergroßen Welle aus Glück und Gier erfasst. Es kam, wie es kommen kann, wenn unschätzbar gute Menschen die eigenen Glücks-Gier-Wellenwege kreuzen. Pünktlich zu meinem Geburtstag kam ein stattliches Paket an Sedum-Stecklingen an. Nichtsahnend öffnete ich es, nasenspitzte rein, meinte mich Walhalla nah und begann sofort damit, das wertvolle Frachtgut in Einzeltöpfe zu setzen. Nach vier Stunden meinte Nichtgärtner: „Meinst du nicht, dass diese 5368 Töpfe reichen?“ „Es sind“, entgegnete ich leicht bissig, „erst 73. Ich hör dann auf, wenn ich keine Topferde mehr habe, und keine Sekunde früher.“
Der unschätzbare gute Gabenmensch verstand meine taumelnde Dankesmail nicht wirklich, da anscheinend dieses Spurium so ein 08fuffzehn-Zeug sei. Stimmt, wie ich inzwischen erfahren konnte. Aber immerhin ist es die „Alba“ und die ist 0816.
Hemd wie Hose. Ich sitze also auf dem kalten Treppenteil, seh das ersamte Sedum spurium und gacker vor mich hin. Dass es von den Vorgärtnern stammen musste und es sicher das rosa Ding war, störte mich dabei nicht im Geringsten. Auch nicht, dass es nächstens von mir gemeuchelt würde oder vielleicht auch nicht. Mal abwarten.
In meiner Scholle wird nicht nur wegen unbekannter Vorgänger, flugkotender Dinosaurier Vögel oder windiger Winde gedöst, sondern auch wegen meinereiner. Wenn ich lückenlos rosarot bebrillt durch den Garten scharwenzle, ist dieser Umstand Anlass zu breitem Lächeln. Es hat etwas von einer Zeitreise, wenn man unvermutet einem Erdbeerspinat begegnet, den man vor schätzungsweise neun Jahren liebevoll vorgezogen gesetzt hatte, nur um festzustellen, dass man ihn weder oral noch visuell besonders ansprechend findet, und ihn darum nach einjähriger Schonfrist auf dem hauseigenen Kompostaltar darbrachte. Jetzt ist er nichtsdestotrotz wieder da, wenn auch in nächster Generation, und streckt mir seine Dreieckblättchen unverdrossen ins jätende Gesicht. Neun Jahre. Da schüttelst du den Kopf. Neun Jahre. Ein Augenzwinkern und gleichzeitig ein Äon. Erinnerungen steigen auf, man sieht denselben Menschen vor sich und doch einen ganz anderen … was hast du in der Zwischenzeit nicht alles erlebt, gelernt, gelacht, gelitten, bist einerseits nicht viel schlauer geworden, andererseits aber vielleicht etwas reifer? „Immerhin würdest du heute keinen E-Spinat mehr aussäen. Das ist doch schon mal ein Schritt“, sag ich mir, lass den Sämling stehen und widme mich dem Rest der (er)wach(t)en Pflanzen.
So vergänglich alles im Garten ist, so ephemer für immer Angelegtes wie etwa Lavendelhecken, so sehr dahingeschwunden und gestorben wird, dauernd, immer und immer wieder, ebenso unerwartet wird auferstanden. Immer und immer wieder oder manchmal nur alle dreihundert Jahre einmal. Mitunter vielleicht auch gar nicht, doch stimmt dies nicht immer zwingenderweise traurig („Unkraut“ unke ich hier beispielhaft).
Und so weile ich in meinem schlummernden Auferstehungsgarten, halte beim Tippen inne, lasse den Blick schweifen. Herbstlich sanft-morbide auf mich zurückgeworfen denk ich an mein Dahinscheiden. Zur Wiederauferstehung dienen da weder Stecklinge, Samen noch Eigelege. Da gehst du hin und hast auf deinem Wege keine großartigen Spuren hinterlassen, gut, du hast dich auch nicht wirklich drum gerissen, aber trotzdem. Gut, wenn du dahingehst, wird es dir vermutlich eh schnurzegacker sein, aber trotzdem.
Urplötzlich seh ich vor meinem geistigen Auge ein gärtnerndes Zukunftswesen, das fragezeichenkopfschüttelnd einem unbekannten Dreieckblättchen begegnet.
Es lächelt breit in mir.
Mir gefällt es sehr, dass bestimmte Begriffe, wie Velociraptor, in verschiedenen Texten immer wieder auftauchen. Dies führt zu Wiedererkennung. Hier kommt dieser Begriff besonders zur Geltung, weil auch Dinosaurier auftauchen. Nicht nur das, die Velociraptoren werden plötzlich zu ganz normalen Vögeln im späteren Verlauf. Auch wie du Sachverhalte mit Sprichwörtern verbindest um die Grössenunterschiede noch stärker hervor zu heben. Selbstironie reckt sich immer wieder ans Tageslicht und würzt deine gärtnerischen Texte, so dass du aus ihnen schmackhafte literarische Gerichte hervor zauberst. Ich finde, es muss nicht geschwollen daher kommen um hochstehend zu sein. Teilweise spriesst die Genialität aus Alltäglichem. Schliesslich sind deine Erlebnisse pointiert, in einem grösseren Zusammenhang dar gelegt und glänzen durch Originalität. Auch wenn du eher einfach Mal drauflos schreibst, lese ich eine Komposition daraus, die nicht immer vollständig bewusst und direkt zielgerichtet sein muss. Wie wenn ein bestimmtes Erlebnis plötzlich in deinen Erinnerungen heran reift, saftige Früchte trägt und du dann einen ausgewählten memorialen Samen aus dieser üppigen Frucht zu einem Text heranwachsen lässt. Du ihn dann mit kreativen Einfällen düngst und die Unkräuter der Erlebnisse, unwichtige Nebennotizen, jätest und ihn anschliessend in Form von erwachsenen Sätzen in den Garten des Internet pflanzen würdest. Auch als du ein paar Zeilen später wieder auf das Entleiben zurück kommst, erkennt man dein inhaltliches Können. Wenn du denn Pflanzen Schlauheit zu schreibst, machst du das äusserst lebendig beschrieben. Ich sehe es richtig plastisch vor mir, wie durchtrieben (sie haben ja wirklich Triebe) sie das bewerkstelligen. Du gehst immer wieder auf die temporale Dimension ein, wenn du die Zeit als zweischneidig (Augenzwinkern und Äon; zweimal A sogar!) entlarvst. Dann ins philosophieren kommst, wie Erinnerungen gedeihen in 9 Jahren, wie sich alles ändert, sogar die Bekannten um dich und deine Wahrnehmung .
Aber die Glanzleistung dieses Textes erblüht in den letzten Zeilen. Plötzlich zoomst du aus dem Gartenraum heraus und zeigst dich als Erzähler. Die humoristische, leichte Gangart des Textes wird kurz weg geweht. Die Vergänglichkeit von allem wuchert aus deinen Schilderungen heraus und… sie umschlingt dich, immer noch mit einer gewissen samtenen Sanftheit, während dir auf einer übertextlichen Ebene deine eigene Sterblichkeit offenbart wird. Du fasst dich schnell, bringst wieder deinen Humor ein, diesmal aber geschwärzt durch die herbstliche düstere Stimmung und endest am Schluss wieder in federleichtem Humor. Oft löst du tiefgründige Passagen in witzige Sequenzen auf. Als ob du ihnen die Schwere nehmen würdest, indem du einen Stein von ihnen hebst und darunter sich etwas witziges empor recken kann . Mit den Wörtern urplötzlich und Zukunft umrahmst du noch einmal die ganze Handlung prägnant. Bewusst oder nicht, manchmal komponiert man sogar besser wenn man nicht zu viel überlegt. Zum Abschluss noch ein von mir frei übersetztes Zitat aus meinem Studium:
Kreieren heisst neu kombinieren – François Jacob
Du erfindest auch etwas, indem du „nur“ reales neu zusammen fügst.