In unserem Garten steht ein Kirschbaum. Ein großer. Ein wirklich, wirklich ganz großer. Und er ist so hübsch, dass mein Baumschneider des Vertrauens beim ersten Anblick vor Entzücken seinen stattlichen Bart streichelte und versonnen brummelte: „Ja. Ein schönes Exemplar. Solche Obstbäume gibt’s heute gar nicht mehr.“ Ich, stolz wie Bolle, obwohl ich ihn einfach nur geerbt und somit eigentlich keinen Grund für stolzen Dünkel hatte, meinte daraufhin: „Können Sie ihn bitte so schneiden, dass wir nächstes Jahr kaum Kirschen dran haben?“ Er schielte augenwinklig zu mir rüber, ein leises Grinsen zeigte sich unter den Barthaaren und dann nickte der Kopf beruhigend.
Das passierte vier Jahre, nachdem wir uns hier niedergelassen hatten. Der Kirschbaum war mit ein Grund, warum ich un-be-dingt hier leben wollte. Kirschen! Meine Lieblingsfrucht! Und dann noch die späten, süßen, schwarzen! Kiloweise würde ich die futtern, unter Bauchgrimmen leiden, was mir aber egal wäre, und dann weiter reinschieben, bis die gesamte Ernte einverleibt wäre. So der Plan.
Dabei hatte ich zweierlei nicht berücksichtigt:
- Die schiere Menge. Mit ein bisschen gedanklichem Engagement wäre mir klar gewesen, dass ein wirklich ganz, ganz großer Baum wirklich ganz, ganz viele Früchte produziert. Da kapitulieren auch herkömmliche Maxi-Mägen.
- Die Kirschfruchtfliege. Ernte niemals auf Vorrat und stelle die Ware dann in den kühlen Keller, außer dich fasziniert eine sich langsam fortbewegende, an tausend Stellen rumschwänzelnde Masse.
Im nächsten Jahr erwarb ich ausladende Kirschfruchtfliegengelbtafeln, wartete brav ab, bis die Kirschen von grün auf gelb schalteten, und hängte vorletztere dann liebevoll wie Weihnachtskugeln hübsch verteilt an den Baum – faulheitsbedingt vor allem im unteren Bereich. Mehrere Wochen lang verschandelte der karnevalsgelbe Anblick den gesamten Garten und hängte sich mit regelmäßiger Liebe an meinen mähenden Kopf. Als ich schließlich prüfenden Blickes die festgeklebten Insekten unter den vielen Haaren begutachtet hatte, befanden sich sehr wenige Kirschfruchtfliegen dran, dafür ganz viele Nützlinge. Und die Kirschen liefen vorratsmäßig genauso davon wie im letzten Jahr. Super.
Man lernt. Das folgende Jahr stand unter dem Zeichen: Ernte so viel wie möglich, lade alle Nachbarn dazu ein, füll deinen Magen, entsteine die restlichen Kirschen (dafür hat man sich extra ein mechanisches Entsteingerät geleistet) und friere sofort ein, dann läuft auch nix davon. Allein, die Nachbarn winkten alle ab. Nicht weiter verwunderlich, besteht doch unser Weiler vor allem aus Kirschbäumen und daneben noch ein paar Häusern. Nachdem wir unsere Kühltruhe mit so vielen Kirschen gefüllt hatten, dass sie sich kaum mehr schließen ließ und meine entsteinenden Hände für lange Zeit violett gefärbt blieben, guckte ich am Baume hoch und erbleichte. Da hingen ca. weitere fünf Kühltruhen vor sich hin. Nicht mal die Vögel mochten sich noch erbarmen. Sogar unser kirschenverrückter größter Hund, der extra Männchen machte, um frische Ware direkt vom Baum zu pflücken, befand es nun für gut und seinlassend. Die anschließenden Wochen verbrachte ich damit, die runtergefallenen, vermadeten, mumifizierten oder gärenden Früchte aufzulesen und Abfallsäcke damit zu füllen. Ein olfaktorisches Erlebnis der anderen Art.
Hier nun kam mein bärtiger Baumschneider ins Spiel. Der schaffte es tatsächlich, den Baum so zu schneiden, dass dieser ästhetisch die Wucht blieb, uns aber nur noch drei Kühltruhen voll bescherte. Außerdem entfernte er die untersten Äste, an denen ich mir bei jedem Mähen selbstvergessen Beulen geholt hatte. Ein guter Mann!
In der Zwischenzeit war unser Feigenbaum zu einem stattlichen Exemplar gediehen, ich und GG waren völlig aus dem Häuschen, konnten wir doch sommers zuckersüß leckere frische Feigen pflücken und sie in den Kirschmund schieben. Habt ihr schon mal frische Feigen gekostet? Darüber hinaus sogar eigene? Einfach nur köstlich! Spätestens da versteht man, warum Evas und Adams kleidungstechnisches Statement ein Feigenblatt war.
Es kam der Herbst. Unsere Feige schob nach. Und wie. Pro Tag erntete ich vierzig Stück. Nachdem wir Salat mit Feigen, Fleisch mit Feigen, Pasta mit Feigen, anderes mit Feigen, Nachtisch mit Feigen, pure Feigen verzehrt und den Rest verzweifelt gerumtopft und getrocknet hatten, hielten wir von Feigen dasselbe wie von Kirschen. Nicht mehr so wahnsinnig viel.
Und dann passierte es. Der böse Winter kam. Zitternd beobachteten wir, wie die oberarmdicken Stämme der Feige zusehends den Löffel abgaben. Bangend hofften wir und wurden letztlich beglückt – sie trieb von unten aus, Hosianna! Die darauffolgenden Jahre lang. Ohne Feigen. Bloß noch ein schmales Tütchen getrockneter Feigen lag im Vorratsschrank, von dem ich gestern für das Gartenpartybrot die vorletzte Ration aufgebraucht hatte. Dies im wohligen Wissen, dass momentan zwei Generationen Früchte am Baum reifen.
Dem Kirschbaum erging es fast ähnlich. Im letzten Jahr, als das Frühjahr dermaßen verregnet war, dass jegliche Fluginsekten die Flügel strichen und Monilia die ihrigen öffnete, ernteten wir gerade mal soviel, dass ich einen mickrigen Kuchen draus machen konnte. Dafür kletterte ich sogar einige Meter nach oben. Das mit Höhenangst, wohlgemerkt.
Das Résumé ist keine Pointe, weil zu sehr auf süßklebrig-violetter Hand liegend. Was wir im Überfluss haben, verkommt zur Banalität. Meine Kirschenliebe erkennt niemand mehr, nicht mal ich. Wenn ich beim Ernten, Entsteinen und Einfrieren zehn frische Stück in den Mund schiebe, ist es schon viel. Ich freu mich auf die erste reife Feige wie ein Kind auf Weihnachten. Wenn es im Herbst wieder zig Male Weihnachten wird, dann schiebt sich der Feigenmundwinkel dezent nach unten. Warum ich keine Himbeeren, Aprikosen, Birnen, Pflaumen oder Quitten ziehe? Da fragt ihr noch?
In diesem Frühjahr verzichtete ich auf den Bartträger meines Vertrauens und legte selbst die schneidende/sägende Hand an. Bei unserem Kirschbaum. Immerhin hatte ich über ein Jahr lang den Obstbaumschnitt studiert, angeleitet angewendet und brauchte nun ein weiteres Prüfungsexemplar, bei dem es keine Rolle spielen würde, wenn ich einen Totalversager böte. Hatte ich nicht. Dummerweise. Zwei Kühltruhen sind bereits geerntet, weitere sieben hängen noch oben.